Kurzfabeln

Bewusstseinsebenen

31. Juli 2021

Für einen kurzen Moment lang hatte sie das Gefühl, ein Abgrund tue sich vor ihr auf, aus dem eine eisige Kälte aufstieg, und sie wusste nicht, ob sie den Mut besaß, in die Tiefe zu blicken. Doch als sie den Kopf hob fiel ihr Blick auf das Wasser, auf einen Felsrücken, der das Panorama beherrschte. Der Wind flüsterte, der Nachthimmel spiegelte sich im Wasser. Der Boden vor ihren Füssen glitzerte im Mondlicht. Vor sich sah sie eine Bank, die hier mitten in dieser Szene so unwirklich schien, so ruhig und idyllisch. Am liebsten wäre sie hingegangen, hätte sich darauf gelegt, eingerollt und tagelang geschlafen. Einen winzigen Wimpernschlag später konnte sie auf jener Bank eine weibliche Silhouette wahrnehmen. Zwei Schritte näher. Wie klein und mädchenhaft die Frau, deren Rücken sie nur sehen konnte, doch war. Und der grob gestrickte Wollpullover mit seinem riesigen Rollkragen war viel zu schwer und viel zu groß für sie. Noch einen Schritt näher erkannte sie sich selbst, schlüpfte in ihre eigenen Umrisse und verschmolz mit ihnen. Sie legte den Kopf in den Nacken, die Wolle des Pullovers kratzte an ihrem Hals. Der Himmel war so klar, dass jeder einzelne Stern wie ein Nadelstich in einer tiefschwarzen Pappe funkelte, hinter der eine extreme Lichtquelle brannte, und für einen Moment, bevor sie die vertrauten Sternbilder und Konstellationen erkannte, schien sich das gesamte Firmament über ihr zu drehen, als führten die Sterne einen schwerelosen Tanz auf, um sich zu einem geheimnisvollen und bedeutenden Muster neu zu ordnen und sie hatte das Gefühl, einen Blick in eine unheimliche Welt geworfen zu haben, eine andere Dimension, in der jener im Grunde gar nicht existente, winzige Augenblick für alle Zeiten gefangen war, den es zwischen der Schöpfung und dem absoluten Nichts gegeben haben mochte, samt allen unfertigen, von unvorstellbaren Hass auf alles Lebende und Fühlende beseelten Kreaturen wie den Wraith und den Goa‘uld. Dieser Moment war zu schnell vorüber, um sie wirklich zu erschrecken – aber plötzlich empfand sie einen an tiefen Hass grenzenden Groll gegen all die, die Menschen so folterten und ihnen die Kraft, die Energie, das Leben nahmen.

Würden sie jemals mit dem Schiff ihr Ziel erreichen? Würde sie finden, wonach sie suchten? Würden sie bleiben können, oder würde jemand dieses Schiff mit all diesen fantastischen Technologien, den unglaublichen Möglichkeiten, diesen unerschöpflichen Schatz und uraltes Wissen zerstören? Hatte einer der Besatzung tatsächlich begriffen, auf was für einen Schatz von unermesslichen Wert sie lebten und begleiten durften? Eine Technologie aus einer – für sie vollkommen fremden und andersartigen Welt, die nicht nur ihnen, sondern womöglich der gesamten Menschheit einen weiteren Schritt in eine Zukunft ermöglichte, eine Zukunft, die sie eigentlich nicht mehr haben würden? Der Mann, der dieses unbegreifliche Raumschiff gebaut hatte, hatte den Abgrund zwischen den Sternen schon lange vor ihnen überwunden, während die Menschen gerade zaghaft damit begannen, sich auf zerbrechlichen Flügeln aus Segeltuch und Holz für wenige Augenblicke von der Oberfläche des Planeten zu erheben. Und dennoch: hinter all dem Unbegreiflichen, hinter all dem überlegenen Wissen, das ihre Anwendung für die Menschen bedeuten mochte, lauerte noch etwas anderes. Vielleicht war der Preis, den sie alle dafür würden zahlen müssen, zu hoch. Doch wären sie dadurch weniger bereit, dieses Risiko einzugehen?

So zufrieden. Alles war gut so, wie es war. Das Weiß um sie herum war vollkommen. War es das Mondlicht, das den Berg so majestätisch glitzern ließ? Vollkommene Schönheit. Vollkommene Stille. Das Knistern brennender Holzscheite, heraussprühende Funken, die sogleich wieder verglühten. Sie saß nicht mehr auf der Bank, sondern stand in einem Wohnzimmer, das ihr bekannt vorkam. Die Wände erstrahlten in einem matten Weiß, waren nicht tapeziert, sondern verputzt und verliehen so dem gesamten Haus einen gewissen Charme. Die Möbel strahlten Wärme aus und das Sofa mit der karierten Decke darüber lud zum Ausruhen ein. Als sie den Kopf ein wenig schief legte, konnte sie den Hund sehen, der unter dem Tisch lag. Sofort fiel ihr sein Name ein: Parzival. Auf dem letzten Sonnenfleck auf dem Teppich lag Tristan, Grannys Kater, zusammengerollt, die Augen vor Zufriedenheit zu Schlitzen verengt. Sie kniete sich nieder, fuhr mit den Fingern durch das dichte und trotzdem seidige Fell des Katers und kraulte ihn hinter den Ohren. Die Katze schnurrte so, dass sich die Vibrationen durch ihre Finger und den Arm hinauf fortsetzten, bis sie den Eindruck hatte, als versetzten sie auch ihren Kopf und ihre Gedanken in Schwingungen. Von weiter Ferne konnte man ein immer lauter werdendes Gejaule vernehmen. „Jean hat Arthur immer noch nicht von seinem Hobby abbringen können,“ kam die weibliche sanfte Stimme aus der Richtung des großen Sessels. Als sie den Kopf leicht drehte sah sie in die Augen ihrer verstorbenen Granny, Mutter Adrianas. „Sie haben einen Kompromiss geschlossen! Wenn Jean in der Kirche ist, darf er spielen,“ erklärte ihre Großmutter. Das Gejodel wurde lauter und Parzival unter dem Tisch hatte bereits den Kopf zwischen seine Pfoten gelegt, so als ob er sich die Ohren zuhalten wollte. ‚When the saints go marching in…‘ konnte man mittlerweile deutlich hören, dann brach der wunderliche Klang ab und es ertönte ‚Silent night‘. „Wenn man bedenkt, dass er keine Ahnung von Musik oder Tönen hat, dann spielt er mittlerweile ganz gut unser Arthur!“ sagte sie laut, um die seltsamen Klänge des Nachbarn Arthur McQuire zu übertönen. Arthur McQuire’s Hof lag gute fünf Meilen vom Haus ihrer Großeltern in Glastonbury entfernt. Doch gerade in Windstillen Momenten und insbesondere an Nachmittagen, an denen Jean McQuire die Kirche besuchte, konnte man Fernsehen, Radio hören oder Schlaf vergessen. Denn dann schürte Arthur McQuire ein Feuerchen in seiner Scheune, die etwas abseits von dem eigentlichen Haupthaus lag und warf seine Dampforgel an. Die Kalliope war museumsreif. Er hatte sie durch Zufall einem ehemaligen Kapitän eines ausgemusterten Schaufelraddampfers abkaufen können, bevor das Schiff verschrottet wurde. Alleine der Transport der Kalliope von Amerika nach England musste ein Vermögen gekostet haben! Die Dampforgel hatte insgesamt 57 Pfeifen und stammte aus dem Jahr 1929. Sie war alt und klang auch dementsprechend verstimmt.

Niemand konnte mehr so recht sagen, was zuerst da war: die Scheune oder die Dampforgel, wobei ihre Großmutter stets behauptete, das Arthur die Scheune um die Kalliope gebaut hatte, denn anders wäre es nicht zu bewerkstelligen gewesen. Immerhin hatte sie ungeahnte Ausmaße! Sie war über zwei Meter breit, gute vier Meter lang und hatte eine Höhe von zirka zweieinhalb Metern. Arthur’s Lieblingsstücke schwankten von Woche zu Woche. Er hatte allerdings auch schon Monate dabei gehabt, da hatte er sämtliche Nachbarn in einem Radius von fünf Meilen an den Rand des Nervenzusammenbruches gebracht. ‚Go, tell it on the mountains’ brach abrupt ab und ihre Granny sah sie erstaunt an. “Jean wird nach Hause gekommen sein. Die Kirchenstunde hat wohl heute nicht so lange wie gewöhnlich gedauert!“ versuchte sie sich an einer Erklärung. „Ist auch gut so. Ein Schneesturm zieht auf! Ich werde die Fensterläden schließen. Wir dürfen uns auf eine ungemütliche Nacht vorbereiten! Und dann erzählst du mir mal von dem Schiff und MJ!“ fügte sie amüsiert und neugierig hinzu, während sie sich anschickte, aus dem Sessel aufzustehen. Der Hund hatte sich ebenfalls unter dem Tisch hervorgetraut und trottete ihrer Großmutter hinterher, die aus dem Wohnzimmer ging.

Die heruntergelassenen Rollos zerschnitten das Licht und tapezierten den kleinen Raum mit einem glitzernden Streifenmuster. Ein leichter Wind ließ die Rolloschnüre mit ihren Metallkugeln gegeneinanderstoßen, was sie an Savannah, ihre Heimat erinnerte, an den Hafen, wenn die Metalldrähte der Segel an die Masten schlugen und die hellen Töne wie Glockengeläut über das Wasser hallten. Aber Savannah war Millionen von Kilometern und Lichtjahre weit weg. Stille, die durch eine herrische, gereizte Stimme durchbrochen und aufgelöst wurde. “…damit durchkommen, haben Sie sich geschnitten Perkins. Sie übergeben sofort dieses Antikerschiff, sonst…“: Colonel Caldwell. Durch einen Glücksfall bekleidete er nun eine Position, nach der er förmlich gelechzt hatte: er hatte die Daedalus in seinen Fingern. Doch Caldwells Glücksträhne konnte nichts daran ändern, das sein Gesicht verbraucht aussah, schon fast betagt. Kein bisschen Haar mehr und die Tränensäcke unter seinen Augen erinnerten an benutzte Teebeutel. Jeder von ihnen, auch Caldwell marschierte in jeder Sekunde der eigenen Endlichkeit entgegen, kreuzten besondere Wegmarken. Sie selbst hatte es dennoch weit gebracht, von ihrem Ehrgeiz angetrieben. Von einer einfachen Soldatin, war sie über die Daedalus nach Atlantis gekommen und von dort wie durch ein Fingerschnippen auf die Deserdi Navo. Und da war MJ, in den sie sich im Alter von neunundzwanzig Jahren nach einem Leben, in dem schmerzliche Sehnsucht so unvermeidlich schien wie Atmen, verliebt hatte. Im Laufe ihres Lebens war alle paar Jahre mal ein Mann aufgetaucht, für den sie dann eine Faszination und ein Verlangen entwickelte, dass sie überrollte wie ein heranrasender Zug. Doch das mit MJ war anders. Wenn MJ jetzt sterben würde, dann würde die Welt in sich zusammenfallen wie ein toter Stern, alle Materie auf ein Atom reduziert. Denn Emily hatte sich wie ihr immer klarer wurde, auf eine entscheidende Weise verändert: sie empfand Freude. Endlich. Und sie wusste, das unaufhörliche Flüstern ihres Herzens würde nicht aufhören. Es war nicht genug, würde die Stimme sagen. Noch nicht. All das geschafft, all das erreicht. Und doch, in den Tiefen ihres Herzens würde ihr noch immer dieses unnennbare Quäntchen Glück fehlen, das ihnen so lange versagt blieb: die Vergangenheit zu ändern um die Zukunft zu retten.

Der Geruch von MJ schlug ihr entgegen, als sich eine unsichtbare Tür öffnete. Und fast zeitgleich sah sie ihn. Seine schlanke Gestalt, der geschmeidige, lässige Gang – sogar im Gegenlicht strahlte die ganze Erscheinung Autorität und Würde aus. MJ, ein Mann voller Schatten und scharfer Kanten, seine Geheimnisse waren genauso tabuisiert wie ihre eigenen. Als sie schon nicht mehr daran glaubte, da sprach er die Worte aus, die ihre Seele erhoben. Dieser Mann sagte: „Ich liebe Dich.“ Sie wusste, dass es nie einen süßeren Augenblick geben würde, als den, den sie danach miteinander geteilt hatten. Weniger unbeholfene, aber nie Beglückendere. Sie erlebte zum gleichen Zeitpunkt einen der seltenen Momente im Leben, in dem die Erinnerung verstummte. Stattdessen verbreitete sich ein Gefühl in ihr aus, das sie fast vergessen hatte. Zuletzt hatte sie es gespürt, als sie MJ zum ersten Mal gesehen hatte. Nicht mit den Augen und nicht mit dem Gehirn. Man irrte sich, wenn man glaubte, die wirklich wichtigen Dinge würde man damit erkennen. Wenn man einem Menschen so nahe sein wollte, dass man mit ihm am liebsten den Körper tauschen würde, setzte der Verstand aus, und die Seele wurde zum einzigen noch funktionierenden Sinnesorgan. War das der Moment, als MJ sie aus dem Sessel der Deserdi rauszerrte und dieser Lichtbogen von ihm in sie überging? Sie spürte, dass sie in diesem Augenblick zu einem Stein in einem Spiel geworden war, dessen Regeln und dessen Sinn – sie immer noch nicht kannte. Sie wurde bewegt, von einem Platz auf den anderen geschoben, aber sie wusste nicht, worauf das alles hinauslief.

Während sie wieder sitzend auf der Bank abwartete, kehrte die Erinnerung an MJs körperliche Präsenz zurück, wirkungsvoll wie die Melodie eines Lieblingsliedes. “Wenn nun das Kätzchen schlafen geht, es träumt von Blumenwiesen, von Regenbogenbunter Pracht, die ihm das Niesen hat gebracht…“ „Adriana…“ sagte sie überflüssigerweise zu der hochgewachsenen, sehr schlanken Frau, die ein schlichtes eng anliegendes Kleid trug. Das seidige Haar hatte sie tief im Nacken zusammengebunden, der ihr bis weiter unter die Schulterblätter reichte. Perfekte Figur, perfekte Frau. Unantastbar. Sie nahm den Hauch eines schweren Duftes war. Etwas irritierte sie an Adriana, ihre Kühle und Arroganz vielleicht…sie rätselte weiter, während sie noch kurz dort verweilte und sie nach einiger Zeit in die Gegenwart zurückkehrte, bis ihr Verstand ihre Sinne ablöste.

Durfte sie sich wirklich zum Sterben hinlegen, ohne je versucht zu haben, es herauszufinden? Da war eine verzerrte Stimme, die herandrang, dazwischen andere Geräuschfetzen und von weiter weg, das Klirren von Gläsern. “Schönste Blume auf allen Wiesen. Wie ist es Dir?“ Hier war es kalt. Sie wollte zurück in den schützenden Kokoon, der sie umhüllte. Die Farbe des Himmels hatte sich geändert. Ins Blau des Himmels hatten sich orange Fäden gewebt, und der Gipfel des hohen Berges hatte sich in violetten Dunst gehüllt.

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