Kurzfabeln

Das Leben ist voller Abenteuer.

30. September 2019

Nicht nur durch meine Geburt, sondern weil ich die erste Tochter von Anna und Edmund Blythe war, bekam ich Ende des 18. Jahrhunderts in England ein ganz besonderes Leben geschenkt: umsorgt, behütet und geliebt. Egal wie arm meine Eltern waren, sie waren immer da. Mein Vater bezeichnete mich damals, am Tag meiner Geburt als Geschenk des Himmels. Doch mit dem Alter stellte er fest, dass ich nicht wirklich der Engel war, den die Familie wohl gerne in mir gesehen hätte. Er nannte mich gerne seine „Lu“. Selbst wenn er mich „Lucy“ rief und er verärgert war, klang mein Name aus seinem Mund so schön.

Als Kind war ich schlimmer als die Nachbarsjungen. Ich raufte und zankte mich mit ihnen, setzte mich dadurch hin und wieder durch. Es gab da zum Beispiel eine Episode, ich war vielleicht zehn Jahre alt und es gab einen Nachbarsjungen namens Jack. Er hatte mir ein Bein gestellt, ich kniete vor ihm, bereit aufzuspringen und ihm meine kleinen Hände als Fäuste geballt auf die Nase zu schlagen. Doch ich erinnere mich noch genau, dass ich zunächst die Augen schloss und meine Chancen einschätzte. Im Prinzip war es ein ungleicher Kampf, denn Jack war um einiges größer als ich und entschieden stärker. Noch kniete ich vor Jack, war dann aber mit einem tiefen Atemzug auf den Beinen, ließ mich zur Seite fallen, stützte mich auf eine Hand, streckte blitzartig die Beine aus und hatte sein rechtes Bein umklammert, ehe  er wusste wie ihm geschah. Als er dann tatsächlich stürzte, fürchtete ich für einen Sekundenbruchteil, er könne mit dem Kopf auf den großen Stein rechts schlagen. Doch er landete sauber auf dem Brustkasten und stieß pfeifend den Atem aus. Das Gesicht nach unten lag er auf dem Boden und ich sah ärgerlich weg, denn ich hatte das Gefühl, als hätte mich Jack absichtlich gewinnen lassen. Doch während mein Gesicht noch in eine andere Richtung schaute, kam mir eine Idee. Ich duckte mich und sprang ihn an. Noch im Sprung nach vorne wusste ich, dass es niemals funktionieren würde. Er hatte mein Handgelenk gepackt und schlang zugleich den Arm um meine Taille. Er hob mich hoch um mich dann plötzlich fallen zu lassen und setzte sich auf mich, bevor ich von ihm wegkriechen konnte. Sein ganzes Gewicht lastete auf meinem Gesäß. Von wegen gewinnen lassen! Ich hatte mir dabei mein Kleid zerrissen. Dafür gab es mächtig Ärger zu Hause!

Emilia, kleine Schwester, kannst du dich noch an diesen strengen Winter 1802 erinnern? Nein, natürlich nicht! Du warst noch so klein, erst vier Jahre alt. Unten an den Docks gingen wir mit unserem Hund spazieren. Der Schnee knirschte unter unseren Schuhen, während wir und der Hund Spuren hinterließen. Ein Vogel zog mit leisem Flügelschlag seine Kreise über dem Hafen, vermutlich auf der Suche nach Fressbarem. Kurz verharrte der Vogel in der Luft, dann stieß er sich lautlos im Sturzflug hinunter, um kurz vor dem drohenden Aufschlag auf dem Boden abzubremsen und sich seine Beute mit schnellem Schlag zu sichern. Die Maus hatte keine Chance, ein leises Quieken und der Vogel hatte seiner Mahlzeit den Gar ausgemacht. Dein Schal war heruntergerutscht und ich schlang in dir noch dichter um den Hals. Trotz das deine Hände in selbstgestrickten Handschuhen steckten, waren sie eiskalt. Ich sehe es noch vor mir: eine Strähne deines dunkelbraunen, glänzenden Haares hatte sich gelöst und kitzelte dich an deiner roten Nase. Mit einer leichten Handbewegung stopfte ich dir das Haar wieder unter das Kopftuch zurück und zog es dir gleichzeitig ein wenig tiefer ins Gesicht, so dass deine Ohren besser geschützt waren.

Diese Nacht und die Nacht zuvor hatte es unentwegt geschneit. Die Landschaft rund um den Hafen sah aus wie überzuckert – als hätte jemand einen großen Topf Zuckerwatte darüber ausgeleert. In der Ferne konnte man die Rauchfahnen erkennen, die aus den Kaminen der umliegenden Häuser stammten. Knirschende Geräusche in der Stille und Spuren im Schnee hinterlassend suchten wir uns den Weg durch das kalte Weiß. Die hochstehende Dezembersonne blendete mich und so hob ich eine Hand, um diese schützend vor die Augen zu halten. Ich stapfte am Ufer weiter. Ein Geräusch hinter mir ließ mich zusammenzucken. Es ging so schnell! Mit meiner nächsten Kopfbewegung zurück zu dir Emilia hatte es so ausgesehen, als hätte plötzlich ein Vogel mit den Flügeln geschlagen und wäre dann davon geflattert. Die Zeit blieb stehen und im nächsten Atemzug warst du verschwunden. Ich konnte dich nicht mehr sehen!

Im ersten Moment war es mir nicht möglich zu schreien. Ich wollte mich zumindest bewegen, aber nicht einmal das gelang mir. Ich stand einfach da, bewegungslos, unfähig mich zu rühren, auch nur um zu blinzeln, ja, für einem Wimpernschlag sogar zu atmen. Ich hörte den Hund bellen und als ich mich zu ihm hinunter beugte sah ich dich dort unten im trüben Wasser treiben. Ich sprang hinterher. Diese unglaubliche Angst um dich hat mich angetrieben, hat mir die Kraft verliehen und die Panik vor dem kalten Wasser genommen. Ich habe deine Hand erwischt und ein Hafenarbeiter hat uns herausgefischt. Sie haben uns in warme Decken gepackt und ich habe dich im Arm gehalten. Ich konnte das ruhige Pochen deines Herzen spüren, als ich meine Hand auf deinen kleinen Körper gelegt habe. Du hast mich angesehen und deine Augen glichen bodenlosen Seen. Du warst so lebendig und ich war so unendlich dankbar und glücklich. Du warst so erschöpft, das dir die Augen zufielen und du in den Armen des Hafenarbeiters, der uns nach Hause brachte wieder einschliefst. Ich konnte mir in diesem Moment nicht vorstellen, dass je einen schöneren Anblick auf der Welt geben könnte. Emilia, es tut mir so leid! Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, das ich es damals versäumt hatte, auf dich zu achten. Ich war damals doch erst sechs Jahre alt!

Ich liebte das Gefühl, wenn ich die ledrige braune Haut meines Vaters sanft, fast ehrfürchtig berührte. Ich mochte diesen männlichen Geruch, den der Mann ausströmte und sein Dasein bezeugte. Seine dunkelbraunen Augen, die mich liebevoll ansahen, deren Blick mich aufrichtete, wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte und die mir sagten, wie viel Wert in mir steckte. Diese Augen, die mich strafend tadelten, sobald ich etwas angestellt hatte. Doch dann vor vier Jahren, da sahen diese Augen auf mich hinab und ich konnte nicht verstehen, was sie mir mitteilen wollten. Nie zuvor hatte mein Vater mich so angesehen. Er hatte mich zu sich gerufen, weil er krank war. Und nun saß ich neben seinem Bett auf dem Boden und beobachtete die Millionen schimmernder Staubteilchen, die im gleißenden Schein der späten Nachmittagssonne tanzten, die durch das Fenster fiel. Mir schlug der Geruch meines Vaters entgegen, das herbe Aroma, überlagert von dem leicht würzigen Duft des Öls, das er auf der Arbeit in der Küche des Kaufmanns immer benutzte. Ein Sonnenstrahl kitzelte mich an der Nasenspitze und ich lachte leise auf. Dabei fiel mein Blick auf den Vater und sofort verstummte mein Lachen. Seine, mit Schwielen übersäte Hand lag auf der meinen. Ich wusste um die kratzige Hornhaut seiner Hand, aber für mich fühlte es sich immer wie Samt an. Bisher hatte ich mich in dieser Hand immer geborgen gefühlt, hatte niemals Angst verspürt, hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass es diese Hand irgendwann nie mehr geben würde, oder sich diese Hände einmal um die meinen schliessen und dann zum weg werfen öffnen könnten. Ich verstand zunächst nicht, was er mir zu sagen versuchte, doch dann begriff ich: unser Vater lag im Sterben und wollte mich und Emilia gut versorgt wissen. Zunächst klang seine Bitte, ich solle mich mit einem entfernten Cousin verheiraten, wie das Bestehen auf einem Gottesurteil, dem Ritual, bei dem man der beschuldigten Person Hände und Füße band, sie ins Wasser warf und schaute, ob sie unterging oder nicht. Und ich war mir in diesem Moment sicher, dass ich ertrinken würde! Vermutlich würde man mir noch einen großen Felsbrocken an die Füße  binden, damit ich ja keine Chance mehr hatte je wieder aufzutauchen! Doch es war Vaters Wille und ich fügte mich ihm.

Vater starb ohne, dass wir es merkten. Nun war er aus unserem Leben verschwunden und es war trotzdem so, als war etwas von ihm in der Wohnung meiner Eltern zurückgeblieben. Blieben Düfte wie Gespenster latent vorhanden, unsichtbar und doch präsent für diejenigen, die fähig waren, sie wahrzunehmen?

Ich hatte verstanden und hatte dies auch meiner Familie klar gemacht: ich musste diesen Alexander Randall heiraten. Ich hatte verstanden war die Wahrheit, wenn auch nur eine Halbe, denn ‚ich habe verstanden‘ bedeutete nicht, dass ich nachgeben und alles gut sein lassen würde. Ich machte lediglich gute Miene. Und vor allem bedeutete es sicherlich nicht dass ich mich jemals einem Alexander Randall oder überhaupt einem Mann mit Haut und Haaren unterwerfen würde!

Was keiner in meiner Familie wusste: die erste Zeit nach unserer Hochzeit durfte Alexander mich nicht berühren. Zu dieser Zeit, vor meinem Spiegelbild im Licht glaubte ich wirklich, das ich zum ersten Mal in meinem Leben daran, dass ich Liebe auch tatsächlich erkennen und bereit sein würde, sie anzunehmen, wenn sie käme. Aber tatsächlich habe ich mit offenen Augen nicht gesehen, was für jeden anderen scheinbar sichtbar war: die Liebe Alexanders.

Ich weiß selbst nicht wieso ich so störrisch war, aber ich weiß noch genau wann ich endlich begriff, was mir der Himmel geschenkt hatte! Es war wohl ein letzter Versuch Alexanders mich für sich zu gewinnen und lud mich zu einem Picknick ein. Das Wetter war anfangs nicht das Beste, denn ein leichter Nieselregen hatte das Gebiet, das er sich ausgesucht hatte, überzogen. Der Wind hatte aufgefrischt – und mit ihm meine schlechte Laune – ein paar heruntergefallene bunte Blätter über die moosbedeckte Erde gewirbelt und war mit einem Geräusch, welches an einen Seufzer erinnerte, durch das hohe Gras gefahren. Doch selbst bei Regen war es hier noch immer traumhaft schön. Als die Sonne sich hervortraute, begannen gleichzeitig die Mückenschwärme knapp über dem Boden zu surren. Ich hatte einen Platz mit Blick auf das Panorama gewählt. Auf einer Decke sitzend, den Rücken an einem Baumstamm abstützend, hatte ich mit einem leisen Seufzer die Beine ein wenig näher zu mir herangezogen und legte den Kopf zurück. Mein Blick wanderte zu den Wolken, die sich gegenseitig zu jagen schienen. Die Welt, meine Heimat sah aus, als sei sie noch jung, frisch und als ob es herrlich wäre, den Tag zu beginnen. Mein Ärger hatte sich ein wenig gelegt und ich wurde zufriedener.

Mit einem Mal konnte ich seine innere Zerrissenheit sehen, die meiner sehr ähnelte. Alexander kämpfte mit sich selbst wie ich mit meinem Gewissen. Und dann tat er etwas, was mich zunächst sehr verletzte: er gab mich frei! In diesem Moment war es, als ob die Erkenntnis, dass er mich wieder hergab, mich mit derartigen Verlustgefühlen überschwemmte, dass ich mit einem Mal kein einziges Stück mehr von mir selbst entbehren konnte. Nichts von mir und vor allem nicht Alexander! Ein unsinniger Gedanke schoss mir durch den Kopf: ich liebte diesen Mann. Liebte ich ihn schon die ganze Zeit und wollte es nur nicht wahrhaben? Aus Trotz? Mein Gott wie dumm war ich! Ich verdrängte den Gedanken, beugte mich etwas nach vorne und spürte seine unmittelbare Nähe. Für wenige Sekunden schloss ich meine Augen, genoss den leichten Luftzug, der über meine erhitzten und geröteten Wangen strich. Auf einmal war er direkt bei mir und ich spürte sein Gesicht in meinem Haar. Als ich meine Augen wieder öffnete, erhaschte ich einen kurzen Blick auf die vertrauten und scharfen Gesichtszüge, gezeichnet von der Geschichte seines Lebens. Da war dieses seidige Gefühl, als meine Finger durch Alexanders lockiges Haar glitten. Der Mund, der zärtlich meinen berührte. Sensible Hände, die die Konturen meines Gesichts nachzeichneten, die mich in seine Arme zogen.

Nun sitze ich hier in einem Schaukelstuhl, streichle über meinen dicken Bauch und denke wieder an diesen Tag! Ich spüre noch immer dieses erste innere Gefühl des sich Auflösens, der Verbundenheit. Es war nicht nur dieser Moment gerade, sondern etwas das ich nicht mit Worten beschreiben kann, so als ob jemand uns zueinander geführt hätte. Jeder Atemzug, der in einer schier grundlosen Sinnlichkeit ertrank, als wäre er ein Treibgut in einem endlosen Meer. „Lucy“ – wie eine flüsternde Aufforderung, eine Verheißung, eine Melodie – klingt der Name aus dem Mund Alexanders, wann immer er ihn ausspricht. Ich spüre diesen warmen Wind, der mich zu umarmen scheint und der mir fragend zu wispert „Bist Du glücklich?“ und ich kann nur nicken und sagen: „Ja“.

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